Zu alt zum Fahren?

Senioren den Führerschein zu entziehen, ist der falsche Ansatz.

21. Februar 2017
4 Minuten

Arzt, Einkauf, Familienbesuch: Besonders für Senioren bedeutet ein Auto Unabhängigkeit und soziale Teilhabe. Doch mit dem Alter können sich im Straßenverkehr Unsicherheiten einschleichen. Verursachen Senioren am Steuer Unfälle, stehen daher schnell Forderungen im Raum: Führerscheinentzug im Alter oder zumindest ein verpflichtender Test. Dabei ist die Fahrtüchtigkeit individuell sehr verschieden.

Es hätte schlimm enden können. Als im Juli 2016 ein 86-Jähriger in Marburg geradewegs in eine Kindertagesstätte rauschte, wurde wie durch ein Wunder niemand verletzt. Der Autofahrer hatte Vorwärts- und Rückwärtsgang verwechselt. Dass in dem betroffenen Raum gerade keine Kinder spielten, war ein lebensrettender Zufall. In anderen Situationen enden Unfälle leider auch tragisch, wie im September 2016 in Berlin, als ein 72-Jähriger versehentlich seine Frau mit dem Auto erfasste und diese starb. 

2018 gehörten 13,2 Prozent der Verletzten und 32 Prozent der Getöteten im Straßenverkehr der Generation 65+ an.

Wann immer solche Fälle Schlagzeilen machen, tauchen Forderungen auf, älteren Menschen das Autofahren zu verbieten. Neben dem Führerscheinentzug wird diskutiert, das Fahren ab einem gewissen Alter mit Auflagen zu versehen, etwa in Form verpflichtender Gesundheits- oder Eignungschecks, die die Fahrtauglichkeit be- oder widerlegen sollen. Aber sind ältere Autofahrer wirklich ein Sicherheitsrisiko im Straßenverkehr?

Laut Statistischem Bundesamt in Wiesbaden sind Autofahrer der Generation 75+ überdurchschnittlich oft Unfallverursacher. Waren sie hinter dem Steuer in einen Unfall mit Personenschaden verwickelt, so haben sie ihn in drei Viertel der Fälle auch verursacht, so die Statistik für das Jahr 2015. Tatsächlich ergibt sich in der sogenannten Hochrisikogruppe der Fahranfänger von 18 bis 24 Jahren eine niedrigere Quote von 65,4 Prozent. Allerdings verursachten junge Erwachsene deutlich häufiger Unfälle als die Generation 65+: Im Jahr 2015 war jeder fünfte Autofahrer, der einen Unfall mit Personenschaden verursachte zwischen 18 und 24 Jahre, jeder dreizehnte zwischen 65 und 74 Jahren und ebenfalls jeder dreizehnte 75+.

Ich fühle mich fürs Autofahren total fit.

Anders als im europäischen Ausland wird der Pkw-Führerschein in Deutschland auf Lebenszeit ausgestellt. Herrmann Müller (Name geändert) aus Nürtingen, Jahrgang 1928, ehemaliger Banker, legte im Jahr 1954 erfolgreich seine Fahrerlaubnisprüfung ab. Zweimal im Jahr fährt er mit seiner Frau an den Bodensee. Vieles beim Autofahren sei ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

„Ich fühle mich fürs Autofahren total fit“, sagt er. Gesundheitliche Beeinträchtigungen habe er an sich noch nicht festgestellt. „Ich trage eine Brille, ja, die habe ich aber schon seit den 50er-Jahren.“ Nur das Umdrehen falle schwer im Alter. Er ist froh über Parksensoren an seinem Auto. Trotzdem passierte ihm auf einem Parkplatz mal ein kleines Malheur: Beim Rückwärtsfahren touchierte er ein anderes Auto – ohne Schaden. „Ich habe noch nie ein Auto geschrottet. Wenn ich den Eindruck habe, dass ich das Auto nicht mehr beherrsche, würde ich das Fahren einstellen“, versichert Müller.

Altern führt nicht zwangsläufig zu Fahruntüchtigkeit

Dass man auch mit 90 noch fahrtüchtig ist, halten Experten durchaus für möglich. „Älter werden heißt nicht, dass es automatisch zu einem generellen und linearen Abbau der Leistungsfähigkeit kommt“, sagt Simone Duncker, Verkehrsmedizinerin beim TÜV Hessen. „Das Alter erlaubt keine Aussage über vorhandene Fahrkompetenzen.“

Augen und Ohren werden schwächer, Reaktionen langsamer

Allerdings gebe es „psychophysische Leistungsqualitäten“, die sich im Alterungsprozess ungünstig entwickelten. Dazu zählen verlangsamte Reaktionsfähigkeit und Leistungsabfall bei der Lösung komplexer Aufgaben. Dies kann besonders in unübersichtlichen Verkehrssituationen wie Kreuzungen zum Tragen kommen. Oft lässt die Sehschärfe ebenso nach wie das Sehvermögen in der Dämmerung. Die Blendempfindlichkeit könne steigen, sagt Duncker.

Auch die Fähigkeit, hohe Töne wahrzunehmen, nimmt im Alter ab. Hinzu kämen Einschränkungen bei der Bewegungsfreiheit, neurologische oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes als typische Altersleiden. Die möglichen Folgen: Es passieren Fehler beim Abbiegen oder Rangieren, man übersieht Ampeln und Verkehrsschilder, missachtet die Vorfahrt. Wer z. B. an Diabetes mellitus leidet, kann unterzuckern und am Steuer bewusstlos werden.

Die Einsicht war hart.

Bevor es bei Elisabeth von der Au so weit kam, zog sie die Konsequenzen. Als die heute 89-Jährige aus Altdorf bei Sindelfingen 2015 feststellte, dass sie mit ihrem Fuß nur noch mit Mühe zum Bremspedal wechseln konnte, sagt sie: „Jetzt wird es Zeit, dass ich aufhöre.“ Sie verkaufte ihr Auto. „Die Einsicht war hart“, sagt die Seniorin, die 1962 ihre Fahrerlaubnis erwarb und nie einen Unfall verschuldete. Die Einsicht wünscht sie sich aber auch von anderen.

Doch verordnen kann und sollte man das nicht. Zwar lassen sich Aussagen über den aktuellen Gesundheitszustand treffen, aber da dieser sich im Alter schnell ändern könne, sehen Automobilclubs und Seniorenorganisationen regelmäßige verpflichtende Fahrtauglichkeitsuntersuchungen für Führerscheininhaber kritisch. Solche Tests gäben immer nur eine Momentaufnahme ab.

Angehörige sollten aufmerksam sein und Familienmitglieder für Gefahren sensibilisieren

Herrmann Müller betont, wie wichtig das persönliche Umfeld sei, um dem Betroffenen mit aller Sensibilität mögliche Defizite näher zu bringen. „Der Partner und die Kinder müssen Einfluss nehmen – mir ist bisher allerdings noch nie was gesagt worden.“ In der Tat fällt es oft zunächst den Beifahrern und nicht den Fahrern selbst auf, wenn die Fahrfähigkeit nachlässt – sei es beim Einfädeln in den Verkehr, beim Abbiegen oder Spurhalten.

Den richtigen Zeitpunkt für ein Gespräch wählen

Ein Gespräch zum Thema Fahrtauglichkeit verlangt Fingerspitzengefühl, betonen auch Aufklärungskampagnen wie die „Aktion Schulterblick“. Für ein Gespräch sollte man daher eine entspannte Situation abwarten. Dabei sollten Risiken zur Sprache kommen, aber auch Möglichkeiten, um die Fahrsicherheit zu erhöhen.

Autoclubs, Fahrsicherheitszentren, Verkehrswachten und Fahrschulen bieten regelmäßig spezielle Fahrtrainings für Ältere an, in Niedersachsen jüngst etwa das Programm „Fit im Auto“. Auch der TÜV macht vergleichbare Angebote, bei denen sich Senioren bezüglich ihrer Fahrtüchtigkeit medizinisch und psychologisch beraten und untersuchen lassen können. Doch allein die Teilnahme setzt Selbsterkenntnis voraus.

Regelmäßig Gesundheit checken – unabhängig vom Alter

Ein anderer Ansatz arbeitet mit Anreizen: Gratis-Tickets für den öffentlichen Nahverkehr als Gegenleistung für den Führerscheinverzicht. Seniorenbeiräte in Bochum und Kiel kamen schon auf diese Idee.

Weitere Anreize können das wirtschaftliche Einkommen durch einen Autoverkauf und die Ersparnis des Unterhalts sein. Dafür lassen sich meist schon viele stressfreie Taxifahrten unternehmen.

Fotos: dpa, DVR, Dreamstime/ Deymos

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